20. Februar
Normalerweise vermied sie rot. Heute nicht. Heute hatte sie einen beinahe grellen, leuchtenden roten Wollpullover an. Der Pullover war aus Italien und ein Erbstück ihrer Großmutter. Die Sinuskurven der Mode hatten dafür gesorgt, dass er nun wieder modern war.
Als sie sich im Spiegel betrachtete, gefiel ihr der Schnitt, die immer noch volle Wolle. Der leichte Puff, der sich am Übergang von den Armen zur Schulter auflegte – ohne zu übertreiben. Sie würde damit auffallen und das war ihr normalerweise zuwider. Mehr noch, sie versuchte eigentlich um beinahe jeden Preis, Aufmerksamkeit zu vermeiden.
Aber es war Februar, der Winter schon lang und das Licht aller Wärme beraubt. Draussen matschte alles in einem Brei von Grau und Braun zu einem kühlen, dem Körper permanent Lebenskraft entziehenden Farbton zusammen. Da war dieser roter Pullover ein Statement.
Zwei riesige Tannen winkten mit ihren ausladenden Ästen vom Grundstück gegenüber zu ihr herüber. Sie hatten gerade den letzten Winterorkan überstanden. Sie stellte sich vor, dass sie sich sicher freuten, noch am Leben zu sein. Vielleicht gefiel ihnen auch der rote Fleck lebendiger Rebellion, der sich ihnen darbot.
Sie wollte gerade das Haus verlassen, um sich in den samstaglichen Einkaufsstrudel einzureihen, ging sie stattdessen – einer spontanen Idee folgend – auf den Balkon, stellte einen Strauß gelber Narzissen auf den Balkontisch, der über den feuchten norddeutschen Winter eine schleimige grüne Patina bekommen hatte. An alle vier Ecken des Tisches platzierte sie von Weihnachten übrig gebliebene Orangen. Zusammen mit ihrem roten Pullover bastelte sie eine Waffe gegen den grauen, klammen Tod, der aus Westen heran wehte.
Die Sonne verdunkelte sich. Kalte Nadeln aus Hagelkörnern stachen ihr ins Gesicht und durch das poröse Strickmuster. Innerhalb von 20 Sekunden war sie pitschnass. Bis auf die Haut durchnässt von diesem Niesel, den es nur im Norden gibt. Der so dicht ist und mit Wind gepaart über einen herfällt, einen umhüllt und keine drei Schritte genügen, jeden pitschnass zu bekommen.
Eine Windboe von gut und gerne zehn Beaufort stieß die Vase mit Narzissen um, einige knickten dabei ab und rissen auf dem Weg zum Balkonboden eine Orange mit. Langsam rollte die Orange an die Kante, verharrte dort einen kleinen Moment, bevor sie auf der Terrasse der Nachbarn zerklatschte; als würde sie sich noch einmal zum letzten Gruss umdrehen, dachte sie und reckte spontan die Faust dem Regenschauer entgegen.
So gut sich ihre bunte Rebellion eben noch anfühlte, so dumm kam sie ihr jetzt vor. Die braun-graue Realität hatte ihren farbenfrohen Aufstand in Sekundenschnelle in sich zusammensacken lassen.
Als die letzte Boe des Tages, sich an den beiden Tannen gegenüber vergriff, sie zu Boden brachte (drei Tage Wind und Regen, war den beiden einfach zu viel geworden; der Boden weich, die Wurzeln müde), fing sie an leise zu weinen.
Sie schälte eine der übrig gebliebenen Orangen und biss hinein. Der warme Zucker im Saft der Orange glitt ihre Speiseröhre hinunter und erleuchtete sie von innen.
Sie hatte nun gerade genügend Kraft, hineinzugehen und die Balkontür hinter sich zu schliessen. Kraft sammeln. Für den März. Ans Einkaufen war heute jedenfalls nicht mehr zu denken.
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