Stream

„Das Logbuch gestern war ja eher so Stream of Consciousness„, sagt C. als wir uns halbe Strecke in Lissabon zum Lunch treffen. Der Riba Tejo fließt behäbig unter der großen Brücke hindurch. Der Fluss wirkt ziemlich unbeeindruckt.

Ich gebe zu, als abgebrochener Kulturwissenschaftler musste ich das erst googeln. Virginia Woolf, wow.

Ich muss spontan an einen früheren Kollegen denken. Der hatte sein Studium abgeschlossen, fällt mir gerade auf.

Er hieß auch C. und war Autor. Immer wenn ich in sein Büro kam, lagen genau drei Sachen auf seinem ansonsten leeren Schreibtisch: ein Blatt Papier, ein teurer Stift (so einer, mit dem man beim Notar seinen eigenen Untergang gegenzeichnet, nachdem eine elegant gekleidete Dame sehr gut riechenden Espresso mit italienischen Keksen serviert hat) und eine Packung Cigarillos. (Meist rauchte er gerade einen davon, das war damals normal).

Eigentlich sollten wir arbeiten. Website- oder Internetfilmkonzepte schreiben. Für Schokoladenfabrikanten, Reisebüros, TV-Sender oder die örtliche Filmförderung. Ziemlich häufig sprachen wir aber über Gott und seine Welt.

C. hatte zum Beispiel eine sehr pragmatische Einstellung zum Glauben. In einer unserer spontanen Sitzungen elaborierte er darüber, dass man praktischer Weise Katholik sein müsste.

„Die haben den besten Deal“, sagte er dann und nahm einen Zug von seinem dominikanischen Cigarillo. „Du darfst alles tun, was Du willst; wenn Du an mich glaubst, wird Dir alles verziehen.“

Eigenwillig. So hatte ich das noch nie betrachtet.

An einem Dienstag (das weiß ich, weil es da beim Italiener nebenan immer Frutti di Mare gab) erzählte er mir von der „Ecriture Automatique“, einer Literaturform des 19. Jahrhunderts, die in Frankreich entstand.

Die Grundidee ist dem Bewusstseinsstrom recht ähnlich. Assoziiere. Verknüpfe, lass es laufen. Du wirst sehen, der Text wird schwimmen, laufen, rudern, um die Ecke biegen und dich an Orte führen, die du dir am Anfang nie hättest vorstellen können.

C. erzählt gerade von einem gemeinsamen Bekannten. Der hätte nu alle Schäfchen im Trockenen und wüsste trotzdem nix mit sich anzufangen. Auch eigenwillig. Das würde mir nicht passieren.

Mein Blick schweift über den Tejo und erfasst ein weißes Segel, das sich den Strom hinauf quält. Schäfchen, denke ich, die wären wohl nicht seefest, oder?

Wie lang‘ wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen… schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch‘ ich mich nicht zu genieren…

Aus »Lieutenant Gustl«
 von Arthur Schnitzler (
1862‑1931)

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Erik H.
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@erik@blog.ring2.de

Autor + Podcaster; liebt Segeln + den FC Sankt Pauli.
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