Søby Havn, stürmischer Wind aus Südost, in Böen acht, Gewitterneigung. 26 Grad.
In Søby, dem nördlichsten Hafen der dänischen Ostseeinsel Ærø, gibt es an fast jeder Ecke Kunst. Eine Kunstschule und ihre Schülerinnen pflanzen überall in der Fähr- und Werftstadt Vergänglichkeit in die Gegend.
Auf dem Weg zum Bäcker, der an diesem Tag geschlossen hat (Lukket til Viledes, was immer das bedeutet? Zur Sicherheit erklärt mir der zahnlose Bäcker das auch nochmal, Lukket, also geschlossen. Ja danke. Dann verschwindet er mit seinem schönsten Lächeln in der Backstube). Auf dem Weg hoch zum Bäcker liegt ein Motorboot auf der Seite und rottet vor sich hin. Aus seinem Inneren ragt ein Holzmast mit einer antiken TV-Antenne.
Entweder das ist von der Sturmflut übrig geblieben, oder das ist Kunst, sagt B. Später, als wir die Ausfallstraße wieder runter latschen. Ohne frisches Brot.
Das pittoreske Café am Hafen hat aber geöffnet. Das ist selten. Meist hat es zu, wenn wir in Søby sind. Was mich immer ein wenig irritiert, dass in einer Gegend, die so sehr touristisch geprägt ist, der Ladenschluss krasser praktiziert wird, als in einer Kleinstadt im Harz der 70er Jahre. In Bad Sachsa oder in Goslar.
Vor der Terrasse steht ein Werbeschild für Hansen Is. Das Eis meiner Kindheit. Ein rechteckiger Vanilleeisblock mit Schokoüberzug. So einfach kann Perfektion sein. Schlappe sieben Euro kostet die Zeitreise in meine Kindheit. Heute nicht.
25% davon sind Mehrwertsteuer erklärt mit die nette Besitzerin des Cafés, die beim Reden gleichzeitig Lachen kann. Ich verdiene nur 5 Kronen daran. Aber ab und an muss es eben sein, sagt sie, dann kaufe ich mir auch eins und reise zurück ins Dänemark der 70er Jahre. Beinahe werde ich schwach. Aber nein, heute nicht.
Die Sirene in der Werft pfeift zum Feierabend. Pünktlich und getaktet wird hier gearbeitet. An alten Rahseglern, ollen Kümos aus Monrovia und Fähren. Alles verfällt in einer irgendwie ordentlichen Art. Maschinenhallen werden durch einfaches Dastehen zur Kunst. Patina überzieht den Hafen, den die meisten nur zum Ankommen oder Abreisen nutzen. Um weiter zu fahren ins Puppendörfchen Æroskøbing oder als Sprungbrett in die dänische Sydsee.
Oben an der Straße und mittendrin, bei der alten Mühle, die schon lange keine Flügel mehr hat, sind Häuser zu verkaufen. Generationswechsel ohne Nachzug. Niemand schaut mehr aus den einfach verglasten Fenstern. Die Uhr am Kirchturm ist abgebaut.
Ich mag das da. Fast lebendig ist dieser Verfall, aus dem nur punktuell was Neues entsteht, nur um selbst wieder zu verwelken, wie dieser Schaukastem mit Seetang von der Kunstklasse letztes Jahr. Wer weiss, vielleicht wird dieser Fleck noch zum klimamäßig gelobten Land. Am Mittwoch hatten wir hier dänischen Hochsommer. Kühle 26 Grad im Schatten, als in Baden Württemberg der Asphalt platzt.
Es ist inzwischen 18 Uhr, wir gehen zurück zum Boot, denn der Hafenmeister macht seine Runde – und die will man nicht verpassen. Er ist neu. Was denn mit dem alten Hafenmeister passiert sei, Leo, dem alten Mann mit der Kapitänsmütze und dem verzierten Holzstock, mit dem er immer auf die Bugkörbe der Boote haut. Morgens um sieben, wenn du abends nicht bezahlt hattest auch. Das weckt Tote.
Leo ist krank, sagt der neue Hafenvogt. Sehr krank. Das sei traurig und anstrengend, weil er das 20x am Tag erzählen muss. Ich nicke und denke: das ist doch auch irgendwie toll, wenn dich so viele Menschen vermissen.
Leo sah immer älter aus, als er wahrscheinlich war. Man sah ihm an, dass er gerne etwas trank. Und p/c waren seine Sprüche auch nicht — und davon hatte er eine Menge. Damit passte er zu diesem Hafen. Nun verfällt auch er.
Immerhin. In Søby kommt noch der Hafenmeister, persönlich. Man muss sich nicht mit einer doofen App unterhalten, um die horrenden Hafengebühren zu bezahlen, sagt mein Nebenlieger. Dafür sind die Duschen aus den 90ern. Auf diese Form der Patina kann ich verzichten, sagt B.
Ich mag den patinalen Verfall trotzdem, bei dem sich das einst moderne zusammen zieht und stoisch rostet. Mit der Zeit wirds Kunst. Von ganz allein.
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