Papa, erzählst Du mir ne Gutenachtgeschichte? Aber eine mit „Moral der Geschichte“ und so.
Hmm, lass mich kurz überlegen.
Ok, ich habs.
Es war einmal…
In Kalifornien. Eine Frau, nennen wir sie Susan, war gerade 36 geworden. Eigentlich kein besonderer Geburtstag und doch tut sie etwas merkwürdiges: Von einem Tag auf den anderen kündigt sie ihren Executive-Job bei einer PR-Firma. Verkauft ihr Haus in Malibu, trennt sich von ihrem Freund und zieht mit einem Rucksack, in dem ihre wichtigsten Habseligkeiten stecken, in Richtung Osten.
Zwei Jahre wandert sie in den kalifornischen Bergen herum, auf der Suche nach sich selbst.
Da sie sich partout nicht wiederfinden kann, schleicht sich der Vergleich in ihre Gedanken. Sie ahnt nichts Böses, als sie denkt: „Was wäre gewesen, wenn ich mein altes Leben behalten hätte?“
Es dauert nicht sehr lange, dann spürt sie die Wirkung ihres eigenen Gifts. Nun denkt sie nur noch: „Ich Idiot habe alles hergegeben, mein Leben, meinen Wohlstand, mein Glück“.
Sie vermag sich kaum weiter zu schleppen, da hört ein goldener Vogel ihr Jammern.
Als der letzte seiner Art in Kalifornien lebt er zurückgezogen in der trockenen Halbwüste, sein goldenes Gefieder ist vom hellgelben Staub matt geworden.
Kaum ist Susan an dem Kaktus vorbei gelaufen, auf dem er still steht, erhebt er sich in die Luft und gleitet von hinten über ihre Schulter. Seine mächtigen Krallen rupfen grob den Rucksack von ihrem Rücken und tragen ihn davon.
Als sich Susan von dem heftigen Ruck erholt, bricht sie zusammen. Der Alicanto hat ihr alles genommen, was sie noch besaß. Nun war sie wirklich am Ende.
Ungläubig späht sie in den Himmel, auf der Suche nach ihrer wertvollsten Habe.
Schläfst Du schon?
Wie soll ich denn schlafen, Papa. Die Geschichte ist voll gruselig.
Gibt‘s den Alicanto wirklich?
Ja, mein Kind. Der Alicanto kommt aus Chile, aber ganz wenige schaffen es auch in die heißen Gegenden der USA. Er ist ein wunderschöner Vogel mit goldenen Flügeln, die im Dunkeln schimmern. Er sucht Gold und Silber und bringt Menschen unermesslichen Reichtum – aber nur, wenn sie ihm unentdeckt folgen. Entdeckt er sie zuerst, führt er sie auf gefährliche Wege, bis sie entweder zu Tode stürzen oder sich hoffnungslos verirren.
Was aus Susan wird, erzähle ich dir morgen, schlaf gut mein Spatz.
Papaaaa!