Der Wecker reißt mich aus dem süßen Nichts. 5:40 Uhr. Die Möwen stimmen ein in das Kriegsgeschrei unter Deck. Morgengrauen. Mein Körper verweigert sich, vergräbt sich weiter in der Wärme, die ich die ganze Nacht wie einen Schatz gehütet habe.
Die Morgenbrise wartet auf niemanden, denke ich und sehe ein – ich muss jetzt raus aus der Koje. Meine Beine bewegen sich als erste, der Rest folgt widerwillig aber gehorsam wie eine Puppe. Ich falle aus der warmen Koje direkt in einen kalten Morgen.
Hamburg ist weit weg. Hier bin ich nur einer von vielen Vögeln, die im Herbst landen und im Frühling wieder verschwinden. Manche kehren nach Norddeutschland zurück, ich weiß es noch nicht. Niemand wartet dort – wenn ich mal von meinem Verleger absehe, dem ich noch den Gegenwert eines Vorschuss schulde. Der lockende Ruf ferner Küsten ist wie ein Fluch, den ich nie loswerden werde solange mein Körper noch vom Winter in Deutschland weiß.
Das Boot wird zum Festland im Winter. Es schaukelt mit doppelten Leinen stoisch am Steg. Auch bei starkem Wind droht nichts umzufallen. Die Bewegungen meiner Charteryacht, die ich für einige Monate zu meinem Zuhause gemacht habe, sind nie gewaltsam. Der Segeltag wird mild, hat mir der Wettermann per Funk versprochen.
Jetzt muss alles Seglerische an seinen zugewiesenen Platz zurück, festgezurrt, aufgeheißt und der Rest seefest gemacht werden. Der Morgen blinkt mir unwirklich bunte Prismen in die Augen, vor allem wenn man vor den Vögeln aufsteht, ein surreales Gefühl.
Der Hafenmeister steht draußen, als ich aus der Kabine trete. Er trägt Cordhosen und ein Hemd, als ginge er in einen verdammten Club und nicht zum Abschied seines Wintergastes. Seine Eleganz ist wie ein Vorwurf an meine zerknitterte Existenz. Wir umarmen uns. Er hilft mir beim Ablegen, wirft die letzte Leine ins Wasser und winkt zum Abschied.
Die Yacht gleitet vom Steg weg auf ruhigem Wasser, angetrieben vom Volvo Diesel kräuseln sich am Bug kleine Wellen. Meine Abfahrt weckt Gunther einen Steg weiter. Der andere Deutsche im Hafen ruft zu mir rüber: „Wohin geht‘s diesmal?“
„Alaska!“, flüstere ich zurück, um die morgendliche Stille nicht zu zerstören. Gunther lacht. „Na dann gute Fahrt, hoffe Du hast die warme Unterbüx mit an Bord!“, ruft er mir hinterher. Diese flüchtige, schwimmende Gemeinschaft ist kostbar. Wie sie alle aus ihren Kojen kriechen, um mich zu verabschieden – meine gescheiterten Romane kennen sie nicht, aber mein Boot, das Leben an Bord, das kennen sie.
Eine leichte Brise begrüßt mich an der Mündung des äußeren Hafens. Ich hisse die Segel der Charteryacht in aller Ruhe im Schutz des Wellenbrechers. Draußen in der Bucht von Palma ist der Wind nicht stark genug. Der Diesel muss weiter arbeiten. Der selbstgebaute Ofen unter Deck wackelt im Takt der Wellen.
Ich röste Brot in der gusseisernen Pfanne und bestreiche die knusprige Außenseite mit Erdnussbutter. Der Mokka-Kaffee ist dünn, gestreckt mit heißem Wasser – Hipster nennen ihn Americano – eine Lüge, die ich mir selbst erzähle, damit er nach mehr schmeckt.
Zwischen Can Pastilla und Sa Rapita liegen gut 20 Seemeilen Mittelmeer und eine Küste voller Erinnerungen. Der Wind verlässt mich, als ich um die südliche Spitze biege. Typisch. Der Wind biegt nur um diese Ecke, wenn Juan Carlos schlechte Laune hat. Dann allerdings mit Wucht.
In der Stille tauchen kleine Fischerboote auf. Die Möwen folgen ihnen wie Groupies einer alternden Rockband. Manche ruhen auf den Kabinendächern, andere paddeln im Wasser, warten auf Reste oder einen freien Platz näher dran an den zupfenden Fischern. Ich frage mich, ob die Fischer die Möwen mögen. Sind sie Freunde? Geben sie ihnen Namen? Oder sind sie nur eine verdammte Plage, wie das Gefühl eines ungeschriebenen Kapitels, das in den Eingeweiden brennt?
Der Wind kehrt südlich von Cap Enderrocat zurück. Ich reite ihn hinein in die Bucht von S‘Estanyol, vorbei am Leuchtfeuer von Punta Plana, das gerade Feierabend macht. Ankommend um 11 Uhr. Das innere Logbuch füllt sich mit Worten und Eindrücken dieses Morgens, die niemals das erfassen können, was die See mit mir macht.
Immer allein, immer in Bewegung. Die Geschichten, die ich nie zu Papier bringen werde, sind vielleicht die einzigen, die es wert wären, gelesen zu werden.