Weit gereist, dieses Rot

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Ich sitze bei meinem zweiten Kaffee im Garten und lese E-Mails, als mich an der Peripherie etwas rotes trifft.

Durch das Laub des größten Baumes im Hof fällt die Spätsommersonne auf ein Überbleibsel des letzten Geburtstages, ein Schnipsel rotes Glitzerherz, teilt die blauen Anteile vom Rest und schickt helles rotes Licht auf meine Netzhaut. Weit gereist ist das Licht. Zusammen, und wird erst am Boden zu einem Pinpointer, der anderswo Polizisten-Hundertschaften in Marsch setzen würde. Nur ein paar hundert Meter die Strasse runter können sie ein Lied davon singen.

Ich bin erstaunt und blicke sekundenlang in dieses Licht. Den Rest des Tages habe ich davon einen dunkelblauen Fleck im Auge. 😉

Kiel Kopfbahnhof: Hier endet alles, oder es beginnt.

Kiels Bahnhof ist ein Kopfbahnhof. Das passt irgendwie. Die Kieler Förde legt ihre Stirn quasi an den Kopf des Bahnnetzes. Hier endet alles, oder es beginnt. Kiel ist Transformation.

Hier endet alles, oder es beginnt.

Ich bin früh dran, an diesem regnerischen Sonntag ist nicht viel los. Meine Fahrkarte habe ich schon und setze mich mit einem Eis von Giovanni auf die Bank auf Gleis 3. Schräg neben mir sitzt ein Mann, hinter mir eine blondierte Frau; beide um die 40. Sean, so stellt sich der Mann in holprigem Deutsch vor, will nach Hamburg, und er fragt Christine – so heißt die Dame – und mich, ob das hier das richtige Gleis ist. Ja, das ist es, erklären wir beinahe zeitgleich.

Es entsteht eine Pause, während wir uns noch ansehen. Sean dreht sich weg und beginnt leise zu weinen. Sein Vater sei vor drei Stunden gestorben, sagt er, nun müsse er schnellstmöglich nach Irland.

Sein Atem riecht nach ertränkter Trauer. Seine Augen sind rot unterlaufen. Christine erzählt, dass sie nach Dortmund will, ihre Mutter hat Krebs. Es geht ihr nicht gut. Aber Hoffnung hat sie. Das freut uns, wir nicken stumm. Etwas in mir möchte, dass ich aufstehe und weg gehe. Weg von dem Leid, als ob es ansteckend wäre. Oder weil ich nicht dazu gehöre, ich weiß es nicht. Das selbst erfahrene Leid ist schon zu verwittert, um im Anblick des frischen nicht unhöflich zu wirken, und das kommende eben noch nicht da. Glücklicherweise. Der Schmerz der anderen ängstigt mich, wie es da neben mir auf der Bank sitzt.

Ich ermahne mich zu bleiben, sage aber nicht viel; höre ihnen still zu. Sean fliegt über Hannover und hofft, seinen Flug noch rechtzeitig zu erwischen. Ich überlege gerade fieberhaft, was „Beileid“ auf englisch heisst, als beide aufstehen, um innerhalb der gelben Markierung ein wenig das Gleis runter zu rauchen. Ich nutze die Gelegenheit und schlendere das Gleis hoch in die Gegenrichtung. Leise wünsche ich ihnen eine sichere Reise.

Dann steige ich in den IC, vorbei an zwei wild knutschenden Paaren. Das Leid, das mich eben noch dunkel umwob, wird lichter. Plötzlich bricht der Himmel auf, als der Zug sich in Bewegung setzt. Als die runden grünen Hügel vor Kiel an mir vorbei ziehen, schicke ich einen sanften Gedanken an Sean: „Mein Beileid“, denke ich, „my heartfelt sympathy“.

 

Jetztz

Ich bin, – I am – wie ich bin,
Ob ich spontan hüstel oder in die Weite schaue,

Oder beides zugleich.
Ich bin jetzt, und ich bin hier.
Ich kreische eure Sterne an,
Leise or loud.

Und immer bin ich,
Überwältigt und klein,
In diesem Moment,
Potenziell famos.

Bruno

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Sarah ist loyal,
Sie trägt tapfer ihre weiße Schirmmütze,
Unter der ihre brünetten, langen Haare widerspenstig hervor luken,
Sie verteidigt Mangel und Verlassen sein. ‚Bruno‘ steht auf ihrem Rücken. Der Name eines alten Mannes.

Sie lächelt, und ihre Beine schmerzen;
Setzen?, nicht dran zu denken,
Denken, nicht dran zu denken.
Manchmal erzeugt der Moment eine persönliche Situation,
Ansonsten ist sie das Persönchen für den Sonntagabend.
Auch eine Erfahrung.

Der Mond ist fast voll,
Erzählt ihr ein Gast,
Nicht mehr ganz nüchtern.
Das hätte sie fast verpasst.

Camp

Camp, so hat mir einmal jemand erklärt, ist das, was Du siehst, wenn Du haarscharf an dem Objekt vorbei schaust, das Du betrachten willst. Der Fokus ist anders, weiter, und man kann manchmal mit der Peripherie Dinge sehen, die unbemerkbar sind, schaut man direkt darauf.

Sie ist sehr persönlich, diese ‚campyness‘, deswegen lässt sich famos darüber streiten, aber ein vereinender Faktor ist das Herausnehmen aus Gelerntem, vor allem Machtbeziehungen. Deswegen kann Mainstream fast nie Camp sein, Vicky Leandros in einem Stadion sehr wohl, am Ballermann nie, im Olympiastadion?, schwierig – ihr versteht?

Schräg‚, ist eine häufige, aber schlechte Übersetzung, ‚Queer‚ dagegen steckt oft im Camp, auch weil eine marginalisierte Sicht auf die Welt immer von einem anderen Standpunkt aus geblickt wird. Und um den geht es: den Winkel, den Blick, der aus Höhöhö erstaunte Sprachlosigkeit macht, und warm ums Herz. 😉

Erhöhen ist dabei genauso erlaubt, wie herzliches, aber unpassendes Pathos; St. Pauli lieben geht also, ein aus nationalistischer Vaterlandsliebe geborene Erhöhung dagegen nicht als campy durch. Wikipedia weiß dazu:

„Ein inzwischen als überholt, lächerlich oder misslungen geltender Stil ist dabei nicht automatisch Camp. Nach Susan Sontag muss eine gewisse Theatralik, Leidenschaftlichkeit und Verspieltheit sichtbar werden; Camp-Ironie ist auch überwiegend auf sentimentale und liebevolle Weise ironisch, will die erwählten Gegenstände, Personen und Kunstwerke nie nur vorführen oder der Lächerlichkeit preisgeben. Ferner entsteht gute campy Kunst eher naiv und unfreiwillig; halbherzig gewollte Adaption der Camp-Optik nannte Sontag verächtlich „Camping“.“

Dabei hängt es stark von der persönlichen Prägung ab, was als Camp wahrgenommen wird, selbst im deutschen Schlager wollen manche (eher unfreiwillige) Camp-Aspekte entdecken, etwa in der Musik Howard Carpendales. Madonnas Verwendung von Camp-Ästhetik, oft direkt den Trends schwuler queerer Subkultur abgeschaut, bezeichnet dann bereits ein zentrales Problem des Camp: Ist das noch freundliches Zitat oder bereits exploitative Aneignung durch die etablierte Kulturindustrie?

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Back Out of Hell

Ich konnte noch nie gut mit Bier und Hitze umgehen. Wenn der Körper wärmer wird, sich ausdehnt und die Finger dicker werden. Nee, 22 Grad reicht. Celsius natürlich.

Den ganzen Tag Sonne von vorn.
Und nun zurück.

Immerhin, der Leihwagen hatte eine Klimaanlage, das machte das Ganze erträglich. Vier Halbe Astra hatten wir pro Mann eingepackt, und drei Punkte liegen gelassen. Wie zum Hohn hatten sie Vicky Leandros gespielt, und uns mit dem moralischen Sieg nach Hause geschickt.

Harburger Berge, Elend lange später Hannover, Kassel, letztes Astra, Pinkeln, Bier kaufen, durchs Hessische, bloß weiter.

Die warmen Hände der St. Paulianer spüre ich immer noch auf meiner Schulter. Wir haben und umarmt und viele von ihnen winken uns zum Abschied, als unser Wagen an der Domschänke vorbei zieht. Nach Süden.

Hinter Augsburg gab es Obazda im Angebot und irgend so ein Frankenbräu oben drauf. Brezen und Bier eingepackt, noch schnell pinkeln und weiter. Fast den Schorsch vergessen, der war Halbfestes scheißen. Astra-Schiss statt drei Punkten. Müde. Wir sitzen schweigend nebeneinander, Schorsch fährt und der andere liegt hinten, hat seinen Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Die Feuchte aus seinem erschöpften Atem kondensiert unter seinem Kinn zu einem kleinen Rinnsal. Alles ist gesagt, alles getrunken. – und dann plötzlich ein vollkommen blauer Bus, der von schräg vorne durch die Planke stößt.

Es quietscht und kreischt, um mich herum ist es unheimlich laut, Schorsch schreit, er fährt und sieht fast schon wieder nüchtern aus; irgendjemand hat bei dem Haufen Glas und Blech, das auf mich zurast, vorne rechts einen FC Bayern Aufkleber raufgestickt, dessen blau-weißes Muster immer schneller näher kommt. Alles schwarz, RAUTE … !–//-/___ Dunkelheit, Stille. Und ich hab noch zwei Autbahnraststättenverzehrbons in der Tasche …

Segeln auf dem Meer des Lebens, solange Winde gehn und wir stehn

Es war an einem Sommertag im Juli im Norden, genauer im Süden Dänemarks, im Hafen von Høruphav, als ich bei Regen, 17 Grad Celsius Luft- sowie Wassertemperatur, einem älteren Herren beim Anlegen half. Er segelte bei 8-9 Bft. eine kleine, aber stabile schwedische Albin in den Yachthafen im Flensburg Fjord in dem wir schon seit Tagen eingeweht waren.

Auf meine erstaunte Frage, wo er denn nun herkomme, antwortete er belustigt: ‚von Kagnæs gegenüber, ich hab da geankert.‘ – und auf meine 2. Frage, wie alt er sei; ‘82. Ich liebe das Meer. Mein Boot und das Meer, und irgendwann ist Schluss. – Tut mir nur leid für die, die mich finden‘ … und dann lachten wir.

Heute, sieben Jahre später, und ich denke an den ollen Segel-Kamerad, helfe ich einem alten Mann in Strande anlegen. Engländer, schlo-weiße Haare und ein Boot, dass tatsächlich noch kleiner ist, als unseres. Er kommt aus England, über die Nordsee und den Kanal – und ich bete zu allem, was mir heilig ist, dass mir auch ein Segler-Abend beschieden sein wird … Auf See ein Fahrensmann … bis zuletzt.

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