Blick von der Mole

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Episode 1 des ersten Bandes „Logbuch eines Liveaboards“, das Du auf Substack abonnieren kannst.

Seit Tagen schon wehte ein strenger Ostwind in die Förde, drückte das Wasser von einem Teil der Ostsee in den anderen. Die Mole des kleinen Hafens an der Nordküste der großen Bucht widerstand schon seit hundert Jahren dem Lecken der Wellen. Schob das, was an Energie übrig war, peitschend über den Rand der mächtigen Steinmole.

Wie jeden Abend, pünktlich zum Sonnenuntergang, machte sich Thieß, der Hafenmeister, auf den Weg, die drei Flaggen am Südende der Mole einzuholen; nur um sie Sysiphos gleich, am darauf folgenden Morgen wieder aufzuheissen.

Von Land aus gesehen die Flagge des Landes, dann die der Provinz, in der sein Hafen lag und zuletzt die stolze Flagge des kleinen Ortes. Letztere erneuerte er öfter. Sie sollte sauber flattern und sich nicht zerfleddert seinen Gästen zeigen, die seinen Hafen meist nach einer kräftezehrenden Überfahrt zum Einklarieren aufsuchten.

Zum Land, zu Staaten an sich, hatte Thieß, der von seinen Freunden ”Hauke” genannt wurde (warum weiß eigentlich keiner mehr genau), keine ernsthafte Beziehung. Nationalstolz lag ihm fern, so wie große Ambitionen oder Prahlerei. Letztere war ihm sogar ausgesprochen zuwider.

Thieß huschte gekonnt unter einer Gischtwolke durch und begann die Flaggen einzuholen, als ein später Gast von See aus anrollte. Die über Tage aufgebauten Wellen schoben die Segelyacht von einer auf die andere Seite. Der Skipper, das konnte er sehen, hatte alle Mühe, das Boot auf die kleine Einfahrt zwischen den Molenköpfen zuzusteuern; wie ein Betrunkener wankte das Schiff bedrohlich hin und her, ehe es mit heftigem Schwung auf einer großen Welle in den Hafen glitt. Danach beruhigte sich die Yacht schnell und der Hafenmeister sah den Steuermann aufatmen.

Die Flaggen unter dem Arm winkte er dem Menschen unter dem dicken Ölzeug zu und deutete auf einen Steg in der Nähe, von dem er wusste, dass dort noch Plätze frei waren. Thieß konnte nicht erkennen, wer sich unter der tief im Gesicht sitzenden Kapuze verbarg. Auch nicht, dass dieser Gast eine Weile bleiben sollte – als so genannter Liveaboard: Menschen, die auf ihren Segelbooten leben, moderne Nomaden der See.

Er schlug arglos und entspannt seinen Kragen auf und versuchte möglichst trocken sein Büro zu erreichen. Es war inzwischen beinahe dunkel und die Kälte der Frühlingsnacht senkte sich schnell auf den kleinen Hafen.


Pit, der Segler, hatte seine schwedische Segelyacht aufgeklart, die Leinen noch einmal gecheckt und mit dem Landanschluss an der Ostmole des kleinen Hafens verbunden. Wohlige Wärme strömte aus dem Konvektor unter Deck, als er sich ein Anlegebier aufmachte.

Das kühle, prickelnde Bier spülte das Salz weg, das überall in seinem Bart hing. Das Bier in der Hand schaute er aus dem Niedergang auf das kleine Dorf, seufzte kurz und entschied, sich ab morgen wieder um seine Probleme mit den Leuten in der großen Stadt zu kümmern. Für heute war er zu müde. Die Koje rief und es dauerte keine fünf Minuten, bis er in einen tiefen Schlaf sank.

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