Die werden mit Kopf gegessen

In meiner Lieblingstaverne auf St. Pauli (der Taverna Plaka, frdl. Empfehlung) streitet man gerne. Über Politik, Essen und das Leben an sich — in der jahrtausendealten Gewissheit,  dass das ein und dasselbe ist.

Als der Hamburger Sommer seine letzten großen Tage hatte stritten sich zwei Ober darüber, bei welchen Sardellen man den Kopf mitessen sollte. Die einen schmecken bitter, bei den anderen ist der Kopf das Beste.

Musste heute an die beiden denken: ich hatte Boquerones.

Frühling auf Mallorca

Es ist Frühling an der Platja de Palma. Mit 2 Windstärken huscht eine laue Brise über den mit braunen Filzknödeln übersäten Strand.

Einheimische erkennt man daran, dass sie Wollmütze und Daunenmantel tragen. Touristen, dass ihnen 15 Grad und Sonne warm genug sind für Shorts und Flip-Flops.

Ich sitze bei einem Caffè Cortado in einer der wenigen offenen Bars am langen Fahrradweg nach Palma als eine Dame in weißen Shorts neben mir die Kellnerin ruft: „Una Weißweinsangria por favor“.

Das Feuer von Formentor

Erst wenn die Sonne hinter der langen Landzunge untergeht, wird es sichtbar: das alte Leuchtfeuer von Formentor.

Sie ist noch keine Minute fort,  da erhascht das geübte Auge seinen warnenden Blitz.

Jeder Leuchtturm hat seine eigene Frequenz, manche fast einen Beat. Das Feuer von Formentor hat keinen grünen oder roten Korridor, keine Kadenz. Es zeigt sich nur kurz in strahlendem Weiß, als wolle es damit die Tödlichkeit unterstreichen, die unter ihm lauert.

Selbstglaubwürdigkeit

Mein Kumpel O. ist nicht nur n „feiner Kerdl“, wie mein Opa das ausgedrückt hätte, er trägt auch noch eine große Verantwortung.

Für einen mittelmäßigen Konzern, der sich im Haifischbecken von Finanzinteressen, Medien und renitenten Eigentümern behaupten muss.

Er gibt dann und wann Interviews in denen er dann Sätze erfindet, die so nur er sagen kann. Wie den hier: „Man muss erst glaubwürdig mit sich selbst sein“.

Toll. Wirklich, was für ein Rat. Er könnte auch YT-Guru werden. Oder Pastor.

Patrone des Frühlings

Geduldig wartet die Patrone des Frühlings auf ihren Einsatz. Seit Monaten schon auf den Ästen munitioniert, ragt sie in den Winterhimmel über den die grauen Boten des Vorfühlings rasen.

„Ist es nicht schon soweit?“, scheinen sie zu fragen. Wenn man genau hinschaut, zittern und wackeln manche von ihnen vor Vorfreude.

„Der Februar muss weg“, sagt M. am Telefon. „Kann nicht mehr!“ — Anders als die Magnolien hat er sein Pulver für diesen Winter schon verschossen.

Politischer Januar - Geisterhafter Februar - 003

In Hamburg regnet es Vorfrühling, der dieses Jahr durchaus politisch ausfällt. Themen in diesem Podcast_ POP-Renaissance, Grünkohl- und Pesto-Rezepte, Politisches – alles in 500 Zeichen. Vorgelesen und erläutert im 500 Zeichen Podcast – Episode zwei.

A long way

In einer Lieblingsserie —“Life on Mars“ (BBC) — wird der Protagonist Sam ins England der 70er Jahre katapultiert. Dort struggelt er vor allem mit der rüden und gewaltvollen Art des Polizeichiefs.

In einer Szene platzt Sam der Kragen: er brüllt seinen Ärger über das Gesaufe, den Sex- und Rassismus, die Missachtung aller Regeln dem Chief ins Gesicht. Der legt den Kopf schief und antwortet beinahe sanft: „OK, aber wie Sie das sagen klingt das so, als wärs was Schlimmes“.

Ich hab Hauntologie

Achim Reichel wird Tik-Tok Star in Korea. Tracy Chapman steigt mit ihrem 36 Jahre alten Album auf der Nummer 1 in die Itunes Charts ein.

Aufguss, Renaissance?, was ist das? Popkultur wiederholt sich selbst, ohne wirklich Neues in den Pool zu kippen. Der wird langsam moosig.

Dieses Gefühl gibts auch in wissenschaftlich: „Hauntologie“ heißt die Fachrichtung, die sich mit der geisterhaften Wiederkehr von Popphänomenen beschäftigt.

Ich hab Hauntologie, keine Leidenschaft ist wie die

Frei nach Extrabreit


Mehr zum Thema: Hauntologie

Stevies Festplatte

Tracy Chapman wirkte auf der Grammy-Gala zwischen den ganzen jungen Künstlerinnen wie eine Weise aus einer anderen Welt – Überbleibsel aus einer Zeit, in der große Konzerte die Popwelt bevölkerten.

Wir hörten als ganze Familie das „Mandela“ Konzert aus Wembley im NDR (über die Stereoanlage) und schauten TV nebenbei. Chapman war uns völlig unbekannt als sie für Stevie Wonder zur Primetime einsprang: nur mit Barhocker, akustischer Gitarre und dieser Stimme. Der Rest ist Geschichte.

Ölmann und die Poesie

„Ölmann ist ehemals – das erfuhr ich – ein ganz konservativer Kunstmann gewesen. Nach Goethe hatten noch ein paar halbwegs begabte Reimschmiede gelebt, und seit 1870 ungefähr war es mit der Dichtkunst aus, ganz aus, überhaupt aus. Es würden auch keine Dichter wiederkommen. Einen Goethe oder Shakespeare hatte die Natur nun schon gar nicht mehr zur Verfügung. Sein Professor hatte das gesagt, und der war Geheimrat.

Aber Ölmann ist eine Barometerseele und Windriecher. Er spürt das Wetter einen Tag voraus.“

Heute mal 500 Zeichen von Otto Ernst. Aus „Vom Strande des Lebens“; via Gutenberg Projekt.

Ottos Villa

Kennt ihr die Szene im Weihnachtsklassiker „Ist das Leben nicht schön“, wo Protagonist George Bailey beim örtlichen Købmand immer das Feuerzeug-Orakel nach einer Million Dollar befragt?

Mir geht das in letzter Zeit so, wenn ich an der alten Villa von Otto Ernst in Othmarschen vorbeigehe. „Wenn ich mal Millionär bin, kaufe ich dieses Haus“; und irgendwo antwortet etwas: „geht in Ordnung“.

Otto Ernst war übrigens ein populärer Autor seiner Zeit. Lese ihn gleich mal…

Für jeden beginnt der Frühling irgendwann

In meiner Familie haben wir ein festes Datum für den Frühlingsbeginn. Bei uns fängt der Frühling am 18. März an, dem Geburtstag meiner Schwiegermutter.

Bei der kurzen Recherche zu ihrer Geburtstagskarte fiel mir auf, dass es DEN Frühlingsanfang gar nicht gibt. Es kommt ganz darauf an, an wen oder was man glaubt (oder die vor einem glaubten), ob man Meteorologe oder Botaniker ist – das alles macht einen großen Unterschied, wann für einen der Frühling beginnt.

Am einfachsten machen es sich die Meteorologen. Weil sie klare Grenzen für ihre oft so volatilen Klimadaten brauchen, unterteilen sie das Jahr in vier gleiche Stücke. Eine Kunst, die mir beim Zerteilen des Geburtstagskuchens nie gelingen will. Am 1.12. beginnt bei ihnen der Winter, der einem dreimonatigen Herbst folgt. Am 1. März folgerichtig der Frühling. Jeder, der ein Fenster hat zum Rausschauen, weiß, dass das Quatsch ist. Noch nie hat der Frühling am 1.3. begonnen. Aber vorfreuen kann man sich ja schon mal an diesem Tag.

Schaut man gerne durch die Fenster in die Botanik, sind die Zeichen nicht nur valider sondern auch schöner. Von Faro im Südwesten unserer Europäischen Union breitet sich der phänologische Frühling nach Norden aus.

Frühlingseinzug (Anfang der Apfelblüte) in Mitteleuropa auf einer historischen Karte aus dem Jahr 1930 (Diercke Sachsen, gemeinfrei)

Mit 40 Kilometern am Tag rast er mit seinen Boten in unsere Richtung. Egal, welche man zuerst erblickt: Bachstelzen, Störche (ich hab schon drei gesehen dieses Jahr), Magnolien oder die Apfelblüte, früher oder später rauscht er über uns hinweg.

Ob wir uns in Zukunft noch auf die kulturell tief verwurzelten Vorboten verlassen können, weiss ich nicht.

Wie stark die planetologischen Großmagnetlage unser aller Leben beeinflußt lernt man bei der Beschäftigung mit dem Frühlingsbeginn aber schnell. So fangen in allen bekannten Kulturen die religiösen und aus ihnen abgeleiteten kulturellen Feste um den Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche an. Die ist lustigerweise auch nicht immer am selben Tag, sondern irgendwann zwischen dem 19. und 21. März. Dann allerdings überall; ob in Lüneburg, im Iran, in Russlands Steppe oder in den USA.

So bleibt meine Schwiegermutter die einzige Konstante in dieser Welt, die sich partout nicht festlegen will. Sie feiert an diesem Wochenende ihren 86. Frühlingsauftakt. Und wir wünschen uns alle, dass es noch viele werden – immer am 18.3.

Dieser Text ist Teil meiner „Original Morgenseiten“, die ich in diesem Blog als Teil des Fediverse (wieder) regelmäßig veröffentliche und an meine Abonnentinnen per E-Mail versende. Abonniere mich kostenlos oder supporte diese Texte via Steady.