Posthum

Der Wind aus West hat die Regentschaft über die flachen Hügel um Hamburg herum übernommen.

Das Morgengrauen kriecht langsam und diffus durch Millionen kleiner Tropfen. Kaum schwingend. Tuten aus der Nähe, unten vom Fluss.

Höre einen 25-jährigen Geist im Radio. Starre auf die schwarzen kleinen Finger, die entlaubte Bäume vor mir in den Nebel recken.

Irgendwie merkwürdig, sich Stars der eigenen Jugend nach deren Tod (wieder) zu erschließen. Meist wird das posthum sehr viel tiefer und intensiver.

Heute:

TerryHall​

Frauen beherrschten die Bierbranche – bis die Hexenverfolgung kam

Bier-brauende Frauen; Screenshot des Originalartikels bei The Conversation.

Was haben Hexen mit Deinem Lieblingsbier zu tun?

Wenn ich diese Frage Studenten in meinen Kursen über amerikanische Literatur und Kultur stelle, ernte ich verblüfftes Schweigen oder nervöses Lachen. Die Sanderson-Schwestern (Du erinnerst Dich an Bette Midler, Sarah Jessica Parker und Kathy Najimy?) haben in „Hokus Pokus“ keine Flaschen Sam Adams Astra getrunken. Allerdings weist die Geschichte des Bieres auf ein nicht ganz so magisches Erbe transatlantischer Verleumdungen und Geschlechterrollen hin.

Bis zum Jahr 1500 war das Brauen in erster Linie Frauenarbeit – das heißt, bis eine Verleumdungskampagne die Brauerinnen beschuldigte, Hexen zu sein. Ein Großteil der Ikonographie, die wir heute mit Hexen assoziieren – vom spitzen Hut bis zum Besen -, ist möglicherweise auf ihre Verbindung zu weiblichen Brauern zurückzuführen.

Bier brauen: Im Mittelalter eine Routineaufgabe im Haushalt

Der Mensch trinkt seit fast 7 000 Jahren Bier, und die ersten Brauer waren Frauen. Von den Wikingern bis zu den Ägyptern brauten Frauen Bier. Sowohl für religiöse Zeremonien als auch um ein praktisches, kalorienreiches Getränk für den Alltag herzustellen.

Die Nonne Hildegard von Bingen, die im heutigen Deutschland lebte, schrieb im 12. Jahrhundert über Hopfen und fügte diese Zutat ihrem Bierrezept hinzu.

Von der Steinzeit bis ins 17. Jahrhundert war Ale – und später Bier – ein Grundnahrungsmittel für die meisten Familien in England und anderen Teilen Europas. Das Getränk war eine kostengünstige Möglichkeit, Getreide zu konsumieren und zu konservieren. Für die Arbeiterklasse stellte Bier eine wichtige Nährstoffquelle dar, da es reich an Kohlenhydraten und Proteinen war. Da das Getränk so häufig auf dem Speiseplan des Durchschnittsbürgers stand, gehörte das Gären für viele Frauen zu ihren normalen Aufgaben im Haushalt.

Einige unternehmungslustige Frauen übertrugen diese Fertigkeit auf die Wochenmärkte und begannen, dort Bier zu verkaufen. Witwen oder unverheiratete Frauen nutzten ihre Braufähigkeiten, um sich etwas dazuzuverdienen, während verheiratete Frauen sich mit ihren Ehemännern zusammentaten, um ihr familiäres Biergeschäft zu betreiben.

Verbannung der Frauen aus der Branche

Wenn wir also gemeinsam eine Zeitreise ins Mittelalter oder in die Renaissance unternähmen und einen Markt in England besuchten, würden wir wahrscheinlich einen seltsam vertrauten Anblick vorfinden: Frauen mit hohen, spitzen Hüten. In vielen Fällen standen sie vor großen Kesseln.

Diese Frauen waren keine Hexen; sie waren Brauerinnen.

Laken Brooks

Sie trugen die hohen, spitzen Hüte, damit ihre Kunden sie auf dem überfüllten Markt gut sehen konnten. Sie transportierten ihr leckeres Gebräu in Kesseln. Und diejenigen, die ihr Bier in Geschäften verkauften, hatten Katzen, nicht als dämonische Vertraute, sondern um Mäuse vom Korn fernzuhalten. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Ikonographie, die wir mit Hexen assoziieren, vom spitzen Hut bis zum Kessel, auf die Arbeit von Frauen als Braumeisterinnen zurückgeht.

Als die Frauen gerade dabei waren, auf den Biermärkten in England, Irland und dem übrigen Europa Fuß zu fassen, begann die Reformation. Die religiöse Bewegung, die im frühen 16. Jahrhundert entstand, predigte strengere Geschlechternormen und verurteilte die Hexerei.

Der Rest ist Geschichte; eine in der die Braubranche männlich dominiert war.

Gerade als die Frauen auf den Biermärkten in England, Irland und dem übrigen Europa Fuß fassten, begann die Reformation. Die religiöse Bewegung, die im frühen 16. Jahrhundert entstand, predigte strengere Geschlechternormen und verurteilte die Hexerei.

Die männlichen Bierbrauer sahen darin eine Chance. Um ihre Konkurrenz im Bierhandel einzuschränken, beschuldigten einige die weiblichen Brauer, Hexen zu sein und in ihren Kesseln Zaubertrank statt Schnaps zu brauen.

Leider waren die Gerüchte sehr wirksam.

Mit der Zeit wurde es für Frauen immer gefährlicher, das Brauen zu praktizieren und Bier zu verkaufen, da sie fälschlicherweise für Hexen gehalten werden konnten. Damals war es nicht nur ein gesellschaftlicher Fauxpas, der Hexerei bezichtigt zu werden, sondern es konnte Verfolgung oder ein Todesurteil nach sich ziehen. Frauen, die der Hexerei beschuldigt wurden, wurden oft in ihren Gemeinden geächtet, eingesperrt oder getötet.

Einige Männer glaubten nicht wirklich, dass die Bierbrauerinnen Hexen waren. Viele waren jedoch der Meinung, dass Frauen ihre Zeit nicht mit dem Bierbrauen verbringen sollten. Der Prozess erforderte Zeit und Hingabe: Stunden, um das Bier zuzubereiten, die Böden zu fegen und schwere Bündel von Roggen und Getreide zu heben. Wenn Frauen kein Bier brauen könnten, hätten sie zu Hause wesentlich mehr Zeit für die Erziehung ihrer Kinder. Um 1500 war es in einigen Städten wie Chester in England für die meisten Frauen illegal, Bier zu verkaufen, weil man befürchtete, dass aus jungen Bierbrauerinnen alte Jungfern werden könnten.

Männer haben das Sagen

Die Vorherrschaft der Männer in der Bierindustrie hat sich bis heute gehalten: Die 10 größten Bierunternehmen der Welt werden von männlichen CEOs geleitet und haben überwiegend männliche Vorstandsmitglieder.

Die großen Bierunternehmen neigen dazu, Bier als ein Getränk für Männer darzustellen. Einige Wissenschaftler sind sogar so weit gegangen, Bierwerbung als „Handbuch der Männlichkeit“ zu bezeichnen.

Diese geschlechtsspezifische Voreingenommenheit scheint sich auch bei kleineren Handwerksbrauereien fortzusetzen. Eine Studie der Stanford University ergab, dass zwar 17 % der Craft-Bier-Brauereien einen weiblichen Geschäftsführer haben, aber nur 4 % dieser Unternehmen einen weiblichen Braumeister beschäftigen – den fachkundigen Vorgesetzten, der den Brauprozess überwacht.

Das muss aber nicht so sein. Über weite Strecken der Geschichte war es das nicht.

Anmerkung des Herausgebers: Dieser Artikel wurde aktualisiert, um darauf hinzuweisen, dass nicht endgültig geklärt ist, ob Alewives einige der heute mit Hexen assoziierten populären Symbole inspiriert haben. Außerdem wurde er aktualisiert, um zu korrigieren, dass der Vorwurf der Hexerei erst während der Reformation weit verbreitet war.

Dieser Text erschien im Original in The Conversation, Autorin ist Laken Brooks, University of Florida.
Übersetzung und Ergänzungen: Erik Hauth. Lizenz: Creative Commons, by-nd.

The Conversation: „Women used to dominate the beer industry – until the witch accusations started pouring in“


The Conversation

Reclaim your Blog — reloaded

Ihr kennt das auch, oder? — Du suchst eine Diskussion, einen Tipp oder ein Bild, das Dir eben noch in die Facebook oder Twitter-Timeline gespült wurde; vergebens. Es ist nirgendwo zu finden.

Das Social Web hat Amnesie und nur Mark Zuckerberg hat das Admintool, um das zu finden, was Du letzten Sommer gepostet hast. Dabei war das einmal anders.

„Das social web wächst und strebt auseinander. War die Blogosphäre im Jahre 2005 zwar ein vernetztes Universum, so war doch der Ort des Inhaltes, seine digitale Heimat meist klar auszumachen. Heute kommentieren meine Leser meine Beiträge dort, wo sie sie erreichen. Bei Facebook, Flickr oder Twitter.“ — schrieb ich ein wenig melancholisch in meinen Blog — Im Sommer vor acht Jahren– 2009!

Ich nahm mir vor, meinen Blog als das zu nutzen, was er einmal war: eine öffentliche Sammlung von Ideen, Links, Infos und Erlebnissen. Selbst gehostet und zentraler Speicher meines digitalen Lebens.

Dummerweise habe ich es nicht durchgehalten ;(

Die Gründe sind vielfältig, wobei der wichtigste wohl ist, dass Facebook und Twitter es einem nicht einfach machen, Diskussionen und Leser ins WWW zu entlassen. Das Internet ist kaputt, was diesen — seinen wesentlichen — Aspekt angeht.

Bloggen: “Peepshow mit Gespräch”

– Sven Regener, Musiker, Autor und Blogpraktikant bei @ring2

2013 startete Johnny vom Spreeblick Blog einen weiteren Anlauf. Unter der kämperischen Headline2013: Das Web zurück erobern“ rief Deutschlands Ur-Blogger zur Selbstermächtigung durch Wieder-Selberhosten auf.

„Facebook, Twitter, Google, Tumblr, Apple, Instagram, Pinterest und wie sie alle heißen … sie machen das Web kaputt.“ — das war auch seine schmerzvolle Erkenntnis, die auf große Resonanz stieß (Rivva).

Digitale Midlife-Crisis?

Es mag sein, dass dies das letzte Nervenflimmern einer vergessenen Gruppe von digitalen Einwanderern ist und sich die Uhr längst schon nicht mehr zurück drehen lässt. Trotzdem sticht es mich immer noch und ich verspüre den Wunsch, meinen Blog wieder zum Ausgangs- und Referenzpunkt meines digitalen Publizierens zu machen. Gestern bekam ich einen weiteren Stupser — vom Blogpapst persönlich: Dave Winer.

„I want my old Blog back“ — Dave Winer

Dave Winer, inzwischen 60 Jahre altes Internet und Blogger-Urgestein aus den USA, hatte offensichtlich einen ähnlichen Impuls verspürt. Anfang Mai diesen Jahres hatte er die Faxen dicke — wollte sich nicht mehr vorschreiben lassen, wie er wo zu bloggen hatte.

„Before 2010, on my blog, I could have long and short items. I could use HTML. Link to as many places I wanted, where ever I wanted. There was no character limit, so the short items could grow if they needed to. The same format could accommodate post-length bits with titles that were archived on their own pages. Every item appeared in the feed, regardless of length, regardless of whether it had a title. I could shuffle the order in a given day, easily, because the text was on rails, edited in an outliner.It was great. I didn’t know how good I had it at the time.

When Twitter became popular it threw a monkey wrench in my blogging act. Where to put the short items? So I stopped posting small items on my blog. And everything needed a title to make Google Reader happy.“

Dave Winer hat inzwischen seinen Blog zurückerobert — auch vom Format her, was ich besonders wichtig finde.

Ich denke noch ein wenig darüber nach, lasse den ziehenden Impuls noch ein wenig länger wirken. Wir haben nun schon so lange gelitten, da kommt es auf eine Woche auch nicht drauf an. Eines glaube ich aber sicher: die Sehnsucht nach einem Blog als digitale Heimat ist nicht nur bei uns Pionieren da — das geht auch der Generation Instagram und Youtube so — jedes Mal, wenn man in Cupertino Menlo Park, Palo Alto oder Pjönjang den Algorithmus ändert.

Post-Truth: Warum die Art wie Trump-Anhänger die Welt sehen, sehr ähnlich zu unserer ist

Titelfoto: In God We Trust — kevin dooley on VisualHunt / CC BY

„What we talk about when we talk about post-truth„

Während ich dies schreibe und Sie es lesen, und zwar für mehrere Millionen Jahre in die Zukunft, wird es einen Dummy namens „Starman“ geben, der in einem roten Tesla durch den Weltraum fährt und eine Endlosschleife von David Bowies Space Oddity spielt. Die Sensation des Raketenstarts von SpaceX hat mehrere Sinnebenen, eine davon, die auf Twitter enthusiastisch gehypt wird, ist die Hoffnung, dass die Livestream-Bilder von Starman, die gegen die Erdkugel gerichtet sind, endlich der Flat Earth-Theorie ein Ende setzen werden.

Die Flat Earthers, wie die Anhänger des Konzepts, die Erde wäre eine Scheibe, in den USA genannt werden, ihrerseits, ebenso wie Impfgegner, Pizzagate-Gläubige und andere Kreuzritter in der Welt der Post-Wahrheit, bleiben jedoch unerschüttert.

Das Foto einer Erdkugel ist noch lange kein Grund, seine Überzeugungen zu kippen

So warnen Flat Earther und Menschen, die eine runde Erdkugel präferieren, gleichermaßen vor dem unkritischen Vertrauen in alle Informationen, die über gefälschte Nachrichten-Websites im Internet verbreitet werden, und fordern die Menschen auf, die Quellen von Online-Inhalten kritischer zu beurteilen — in diesem Fall ein privates Unternehmen, das nach Profit und nicht nach Wahrheit strebt. Sie behaupten, dass es einfach ein schlechtes Argument sei, mit „einer gut gemachten Autoanzeige“ eine so wichtige Angelegenheit belegen zu wollen, wie die Frage nach der Form der Erde. Entschlossen, unseren Planeten als einen schwebenden zweidimensionalen Kreis wahrzunehmen, appellieren sie genau an dieselbe Objektivität, dasselbe kritische Urteilsvermögen und dieselbe Suche nach Wahrheit.

Auch Impfgegner warnen davor, Quellen unkritisch zu glauben

Impfgegner, die sich aus Angst vor Autismus weigern, ihre Kinder zu impfen, neigen dazu, sich viel mehr darum zu sorgen, welche Risiken eine Impfung mit sich bringen könnte, als beispielsweise ein kinderloser Wissenschaftler. Wenige (wenn überhaupt) Liberale fuhren fünf Stunden nach Washington, DC, um die „objektiven“ Fakten von Pizzagate zu überprüfen — im Gegensatz zu Edgar Maddison Welch, der 2016 Schüsse auf das Restaurant abgefeuert hat, das angeblich im Zentrum eines Pädophilenrings stand, der von Hillary Clintons Wahlkampfmanagerin geleitet wurde.

Objektive Fakten und fundierte Überprüfungsverfahren sind nicht das, was Post-Wahrheitsgruppen beklagen, sondern vor allem, was ihre Ablehnung antreibt. Was Post-Wahrheitsgruppen beklagen, sind etablierte Fakten und vereinbarte Wahrheiten. Es geht um Vertrauen, nicht um Verifikation.

Es geht um Vertrauen (Trust) und nicht um Verifikation

In „The Web of Belief“ (1970) argumentierten W. V. Quine und J. S. Ullian, dass das, was wissenschaftliche Aussagen wahr macht, nicht ihre treue Übereinstimmung mit externen Fakten ist, sondern ihre innere Kohärenz und die überzeugende Erzählung, die sie gemeinsam bilden. Unsere Überzeugungen stehen dem Tribunal der Erfahrung nicht einzeln gegenüber, wobei jede einzelne auf Tatsachen fußt, die sie direkt bestätigen oder widerlegen, sondern eher als vielschichtiger Körper oder Netzwerk, das nur an seinen Rändern mit beobachtbaren Tatsachen interagiert.

Wann immer eine Tatsache einer unserer Überzeugungen widerspricht, versuchen wir, die Konsistenz unserer Glaubenssätze wiederherzustellen, indem wir einige der Überzeugungen in unserem Wahrheitsnetz überarbeiten. Aber bei der Wahl des zu überarbeitenden Fakts lassen wir uns nicht nur von Fakten leiten. Ausgehend von den Beweisen betrachten wir den umstrittenen Glauben und seine unterstützende(n) Rechtfertigung(en) und bewerten, wie die Konsistenz angesichts des gesamten Bildes unserer Überzeugungen am sparsamsten wiederhergestellt werden kann. Wir werden am Ende alles revidieren, bis zu dem Zweifel, dass wir die anomalen Beweise überhaupt erst beobachtet haben, bis hin zu den Prinzipien der Logik und Mathematik an sich, die im Zentrum unseres Glaubensnetzes stehen.

Laut der Crowdfunding-Kampagne ‚Show BoB The Curve‘ widerspricht ein Foto einer Stadt, die in großer Entfernung sichtbar bleibt, statt unter dem Horizont zu verschwinden, dem Glauben, dass die Erde rund ist. Um diese kognitive Spannung zu lösen, können wir entweder die Beobachtung als irrelevant ablehnen, da wir fest an die etablierte Astronomie und Geologie glauben, oder aber den wissenschaftlichen Konsens, basierend auf Satellitenbildern und den Aussagen von Astronauten, grundsätzlich in Frage stellen.

Die erste Option ist weniger störend für unser Glaubensnetz, verlangt aber, dass wir die direkte empirische Beobachtung außer Acht lassen. Die zweite Option — von Flat Earthern bevorzugt — rechtfertigt die direkte Beobachtung, verlangt aber, dass wir jede Theorie, jedes Experiment und jede Beobachtung, die auf eine runde Erde zeigt, nachhaltig ablehnen. Der Unterschied für die Wahrheitsfindung liegt in den epistemischen Autoritäten, denen man vertraut, nicht in der Relevanz der Fakten.

Autorität formt Wahrheit

Diese Zentralität des Vertrauens gilt auch für Wissenschaftler selbst, deren Beobachtungen auf das Vertrauen in die Theorien und Experimente von Kollegen und früheren Forschern fußen, auf das Vertrauen in die eigene Mess- und Interpretationsausrüstung, auf das Vertrauen in die Lehrbücher und Vorlesungsunterlagen, aus denen man die Grundlagen einer bestimmten Disziplin gelernt hat, usw.

Sogar ’so genannte‘ direkte Beobachtungen, schreibt der britische Wissenschaftssoziologe Harry Collins in „Gravity’s Shadow“ (2004), sind nur ‚winzige Korken, die auf einem riesigen Meer von Vertrauen wackeln‘. Für Flat Earthers bedeutet Misstrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Konsens, Beweise zu replizieren, die der Menschheit seit den 1600er Jahren zur Verfügung stehen, in der Hoffnung, dass sie durch den Einsatz von Luftballons, die von Menschenmassen finanziert werden, die entgegengesetzte Antwort finden werden.

Dieser umfassende Revisionismus unterstreicht die sozialen und politischen Dimensionen der Post-Wahrheit sowie die Asymmetrien, die durch die Behauptung entstehen, dass Kritiker sich derselben Haltung schuldig machen, wie diejenigen, die sie beschuldigen.

Nach dem Vorbild von Quine und Ullian stellen solche Widersprüche akzeptierte Überzeugungen in unserem Glaubensnetz in Frage und verlangen von uns, dass wir wählen, welcher Autorität wir vertrauen, um die Konsistenz wiederherzustellen.

Im Falle von Donald Trumps Zuschauer(massen) bei seiner Amtseinführung bedeutet der Glaube an offizielle Aussagen über die Besucherzahlen, dass man den fotografischen Beweisen, die in den „liberalen Medien“ gezeigt wurden, misstrauisch gegenübersteht. Der Unglaube ist nicht isoliert von der peripheren Beobachtung eines einzelnen Fotos, sondern läuft durch das ganze Netz des Glaubens und fordert alle Informationen aus dieser verschmutzten Quelle heraus. Was auch immer das politische Spiel ist, das Ergebnis ist eine Eskalation des epistemischen Engagements über soziale Grenzen hinweg, wodurch der Eindruck entsteht, dass die andere Seite nicht nur im Griff einer falschen Autorität ist, sondern eine eigene Realität bewohnt.

Es ist nichts Neues, sich bei der Wahrheitsfindung auf Autorität zu verlassen. Aber insofern als die Post-Wahrheit eher eine neue als eine alte, aber jetzt sichtbarere Realität ist, liegt ihre Neuheit darin, den etablierten Garanten der Wahrheit zu misstrauen, zum Teil einfach deshalb, weil sie etabliert sind.

Während das Erscheinungsbild von Subjektivität geprägt ist, wird es paradoxerweise von der Suche nach Objektivität getrieben. Aus diesem Grund kann Fact-Checking nicht gegen die Post-Wahrheit ankämpfen, da es auf dem fundamentalen Irrtum beruht, dass diejenigen, die von falschen erkenntnistheoretischen Autoritäten beherrscht werden, in etwa den gleichen Glauben haben wie wir.

Wir müssen erkennen, dass sich die Welt ändert, wenn sich die Machtbezüge ändern, und die Unterschiede sind keine isolierten Tatsachen, die leicht ausgemerzt werden können. Bilder von Starman aufzurufen, um die Theorie der flachen Erde zu widerlegen, tut so, als ob das Wissen unproblematisch von der Beobachtung zur Theorie übertritt.

Stattdessen, wie Collins es in „Gravity’s Shadow“ ausdrückt, läuft die kausale Sequenz in die andere Richtung: „nicht von den Sternen zur menschlichen Wahrnehmung, sondern von der menschlichen Zustimmung zu den Sternen“.

***

Autorin des Originaltitels: „What we talk about when we talk about post-truth„, Diana Popescu. Sie ist Doktorandin an der London School of Economics and Political Science und beschäftigt sich mit Identitätspolitik, Behindertenrechten, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung. Sie unterrichtet moralische und politische Philosophie an der LSE und an der Blavatnik School of Government in Oxford.

Übersetzt und auf deutsch veröffentlicht von:
Erik Hauth

Original via Aeon.co unter einer Creative Commons Attribution-No Derivatives Lizenz

Tschüss Twitter

Erstaunlich, welche Dynamik der Exodus bei #twitter annimmt.

Digitale Republikflucht ahnden die Algoschergen des kleinen Despoten mit Selbstblockanlagen. Und auch wenn das alles nicht lustig ist, was #Elon da macht [oder mein Vergleich], so ist es doch erstaunlich.

  1. Wie flüchtig alles ist, was man als digitales Wohnzimmer eingerichtet hatte.
  2. Wie wichtig autonome digitale Strukturen sind.

Ich bin Teil des #Fediverse. Mein Blog auch: als eigene Instanz. @Erik via blog.ring2.de

Reclaim your Blog — WordPress mit eigener Fediverse Instanz

Einsam surren die Server der größten privatwirtschaftlichen Newsplattform in ihren Bunkern. Wer erinnert sich an ihre Namen?

Wir, die wir permanent von Auflösung bedroht sind, stehen draussen vorm Silo und wundern uns: wo sind unsere Freunde, wo sind all die Verbindungen unseres Lebens hin?

Sie sind weg; wir können ihnen nur nicht folgen. Eine Diktatur will uns einsperren. Hilflose Gesellen.

Reclaim your Blog nannte das Johnny vom Spreeblick schon vor 10 Jahren.

Nun heisst die Parole: Vernetzung.

@ring2

Dank ActivityPub Plugin für WordPress

Und kurz vor Weihnachten 🎄 manifestiert sich ein lang gehegter Vorsatz. Mein Blog wird Teil des Fediverse. Follow @Erik@www.blog.ring2.de für neue Postings.

Möglich macht dies ein Plugin, das meine Autorenseite zu einem Node im Fediversum macht: das ActivityPub Plugin für WordPress.

Deja-vu im Fediverse

Manchmal setzt man die eigene Erfahrung ja als allgemeine voraus.

Das geht mir mit dem Netz und Social Networks so. Als ich 1994 das erste Mal (im Keller) der Uni LG. saß und per Telnet auf der Stanford Uni rumsuchte (ein Wonach gab es da noch gar nicht), war ich fasziniert und verzaubert. Ich war auf einem Server in den USA.

Sowas wollte ich auch. Wollte „Node“ werden in diesem Mysterium, dass sich Internet nennt. Ich war fasziniert von der Gleichheit und Autonomie. Protokoll-verbunden.

Es ging dann alles sehr schnell: ein gutes Jahr später konnte ich HTML und rudimentär einen Server aufsetzen.

Ich bekam eine studentische Stelle im Herzen ❤️ der Popkultur (VH-1 hatte damals das erste Musikmagazin des dt. Internet gelauncht: das VH-1derland). Ich erinnere mich noch gut daran, dass Moderator:innen, in die ich als Teeny verknallt war, in unseren Büros standen und uns ehrlich verwirrt fragten: „Was macht ihr da?“.

Wir hörten Radio aus NYC, bauten Websites und vernetzten uns.

Yahoo!s Gründer schliefen wie wir unter ihren Schreibtischen, weil sie was fertig und nicht genug kriegen konnten. Wir waren Gleiche. Ich daddelte mit Leuten aus Chile und Neuseeland, fand Leidensgenossinnen im Usenet und hegte einen kleinen Garten an der Stanford Uni. Remote.

Ich war ein Node.

Einer von vielen. Autonom und doch nur mit Sinn behaftet, wenn ich mich verband. Mit anderen Menschen, anderen Nodes. Heute fühle ich das wieder: nach Jahren der stillen Bevormundung.

Folge mir ins Fediverse. Reclaim the Web. https://norden.social/web/@ring2

Mein liebes Tief

Ein Hoch über Russland schiebt arktisch-kalte — also arschkalte Luft nach Hamburg. Immer weiter drängt sie die feuchte Atlantikluft auf die Nordsee zurück.

In meiner Jugend waren Hochs willkommen. Hatten den Ruf, lange Bullerbüsommer zu bescheren. Mit viel Wärme und langer, beinahe unendlicher Sonne.

In Zeiten der Energiekrise werden einstige Hoffnungsttäger aus dem Osten aber zu feindlichen Mächten. Knackige Kälte können wir uns diesmal nicht leisten. Und ob wir Hitzehochs mit freundlichen Vornamen noch willkommen heissen im nächsten Sommer?

So wandelt sich die Welt. Sehnen wir uns vielleicht bald nach Tiefs aus dem klammen Westen?

Osten Wind

Nein, sagte Ostwind, ich kann mit niemandem befreundet sein, der mich ‘Brise’ nennt.

Nun, dachte sich der Westwind, dann will ich das nun nicht mehr. Und schickte tiefen Druck als Sturm.

Denn Winde können keine Freunde sein. Nach dem darauf folgenden Gewitter legte sich über sechs Wochen ein arktischer Wind über das Land.

Erster.

Frohen ersten #Advent. Das Jahr ist beinahe angekommen. Ein Abenteuer neigt sich dem Ende. Eine Runde um die Sonne, bei der nur die Elipse einigermaßen bekannt ist. Daher auch das englische  ‚adventure‘.

Auf der Zielgeraden entspannt die Welt, zieht sich nach Innen zurück. Wir jedes Jahr nehme ich mir vor, vor Heiligabend anzukommen. Wünscht mir Glück… Eine Kerze brennt. Als Erinnerung an hellere Zeiten…